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Voraussetzungen für Rechtsangleichungsmaßnahmen nach Art. 114 AEUV am Beispiel der Vorratsdatenspeicherung

Die Entscheidung zur „Vorratsdatenspeicherung“ des Europäischen Gerichtshofes betrifft die formelle Frage, ob die entscheidungsgegenständliche Richtlinie auf Grundlage des Art. 114 AEUV erlassen werden durfte.
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Heute müsste die Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie nicht mehr auf Art. 114 AEUV gestützt werden.

A. EINLEITUNG
Seit dem Beginn der europäischen Rechtsvereinheitlichung ist die Rechtsangleichung Bestandteil der gemeinschaftlichen Kompetenzordnung. Die Vorgängernormen des Art. 114 AEUV verliehen zunächst der Gemeinschaft und nun Art. 114 AEUV der Union die Kompetenz zur Angleichung von Rechts- und Verwaltungsvorschrift en, welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben.

Dem europäischen Gesetzgeber ist durch Art. 114 AEUV eine erhebliche legislative Gestaltungsmacht in die Hand gegeben worden, die aufgrund der fortschreitenden Kompetenzerweiterung und der Forderung nach einer angemessenen Verteilung der Kompetenzen zwischen Union und Mitgliedstaaten verstärkt ins Blickfeld gerückt ist.1

Problematisch ist allerdings, dass sich aufgrund des weitgefassten Tatbestandes grundsätzlich fast jede Gesetzgebungsmaßnahme auf Art. 114 AEUV stützen und sich der erforderliche Binnenmarktbezug argumentativ schnell herstellen lässt. Hierbei kommt es leicht zu Kollisionen mit dem auf dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung basierenden Schutz der mitgliedstaatlichen Gesetzgebungskompetenz.

Die Entscheidung zur „Vorratsdatenspeicherung“2 des Europäischen Gerichtshofes betrifft die formelle Frage, ob die entscheidungsgegenständliche Richtlinie auf Grundlage des Art. 114 AEUV erlassen werden durfte.

B. DIE RECHTSANGLEICHUNGSNORM DES ART. 114 AEUV
Durch den Vertrag von Lissabon ist es zu keiner grundlegenden Änderung der Rechtsangleichungsnormen gekommen, lediglich die Reihenfolge der Art. 94 und 95 EGV a.F. durch Art. 114 und 115 AEUV wurde vertauscht. Art. 95 EGV a.F. (neu Art. 114 AEUV) wurde wohl insbesondere wegen seiner Bedeutung in der Praxis zur „Grundnorm“.

Diese zurückhaltende Reform erstaunt vor allem angesichts der unterschiedlichen Reformüberlegungen im Hinblick auf die binnenmarktbezogenen Harmonisierungskompetenzen, die vor dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon existierten, sowie angesichts der erheblichen Kritik, die der EuGH insbesondere mit seinem zweiten Tabakwerbung-Urteil3 und seinem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung4 hervorgerufen hat.5

I. REGELUNGSZIEL: ERRICHTUNG UND FUNKTIONIEREN DES BINNENMARKTES
Gem. Art. 114 Abs. 1 S. 2 AEUV erhalten das Europäische Parlament und der Rat die Ermächtigung, Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschrift en der Mitgliedsstaaten zu erlassen, welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben.

Der Anwendungsbereich ist folglich nicht sachlich, sondern funktional auf das Ziel der Verwirklichung des Binnenmarktes ausgerichtet.6 Die Unbestimmtheit des Tatbestandes birgt die Gefahr, dass Art. 114 AEUV zu einer allgemeinen Handlungsermächtigung der Union wird.

Um Art. 114 AEUV eine Struktur zu geben und seinen Anwendungsbereich zu regulieren, müssen die ausdrücklichen Tatbestandsmerkmale eng ausgelegt werden und ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzungen herangezogen werden. Mit dem ersten Tabakwerbeurteil7 und dem British American Tobacco-Urteil8 hat der Gerichtshof begonnen, die Voraussetzungen des Art. 114 AEUV zu konkretisieren und allgemeingültige Kriterien zu entwickeln.9

1. DER BINNENMARKT
Ob eine vorgeschlagene Angleichungsmaßnahme der Verwirklichung des Binnenmarktes dient und folglich auf Art. 114 AEUV gestützt werden kann, ist durch eine Auslegung anhand „objektiver, gerichtlich nachprüfbarer Umstände zu ermitteln“.10 Dazu gehören Ziel und Inhalt der Maßnahme.

Bei der Prüfung dieser Voraussetzung ist zwischen der Beseitigung von Hemmnissen für die Verwirklichung von Grundfreiheiten und der Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen zu unterscheiden.11 Das entspricht der Differenzierung zwischen der Angleichung produktbezogener Normen und der Harmonisierung von Wettbewerbsverzerrungen an Produktionsstandorten.12

Überdies ist die konkrete Prüfung im Einzelfall zweistufig vorzunehmen: Auf einer ersten Stufe ist zu untersuchen, ob Handelshemmnisse oder spürbare Wettbewerbsverzerrungen vorliegen. Auf einer zweiten Stufe kommt es darauf an, ob eine fragliche Maßnahme der Rechtsangleichung tatsächlich die Beseitigung bzw. Vermeidung der konkreten Handelshemmnisse oder spürbaren Wettbewerbsverzerrungen bezweckt.13

2. BESEITIGUNG VON HINDERNISSEN FÜR DEN FREIEN WARENUND DIENSTLEISTUNGSVERKEHR
Über Art. 114 AEUV werden vor allem nationale Regelungen angeglichen, die wegen ihrer Unterschiedlichkeiten ein Hindernis für die Verwirklichung der Grundfreiheiten darstellen, das zum Beispiel wegen Art. 36 AEUV oder zwingender Erfordernisse im Sinne der Cassis de Dijon-Rechtssprechung14 nicht auf anderem Wege beseitigt werden kann.15

Eine Angleichung im Bereich von rein lokal wirkenden Maßnahmen wie den „Verkaufsmodalitäten“ im Sinne der „Keck“-Rechtsprechung16 zu Art. 34 AEUV fällt dagegen nicht unter Art. 114 AEUV.17

3. SPÜRBARE WETTBEWERBSVERZERRUNGEN
Die bloße Feststellung von Unterschieden zwischen den mitgliedsstaatlichen Vorschrift en einerseits oder eine abstrakte Gefahr von Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten oder Wettbewerbsverzerrungen andererseits reicht für eine Heranziehung von Art. 114 AEUV nicht aus.18

Soweit Rechtsangleichungsmaßnahmen der Beseitigung von Wettbewerbsverfälschungen dienen sollen, hat der EuGH die Ausübung dieser Kompetenz zu recht daran geknüpft , dass spürbare Wettbewerbsverzerrungen vorliegen oder einzutreten drohen.19

Die Heranziehung von Art. 114 AEUV auch zur Beseitigung nur kaum spürbarer Unterschiede der Wettbewerbsbedingungen wäre dementsprechend nicht mit dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 EUV) vereinbar.20 Dieser Grundsatz besagt, dass die Europäische Union nur über die ihr auf vertraglichem Weg konkret übertragenen Kompetenzen verfügen kann.21 Der Zuständigkeit des Unionsgesetzgebers wären ansonsten praktisch keine Grenzen gezogen.22

4. BEDEUTUNG DES ZWECKES DER MAßNAHME
Geeignete Rechtsgrundlage ist Art. 114 AEUV ferner auch nur dann, wenn der Rechtsakt tatsächlich den Zweck hat, die Voraussetzungen für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zu verbessern, indem er zur Beseitigung von Hemmnissen für die Ausübung der Grundfreiheiten oder von Wettbewerbsverzerrungen beiträgt.23

II. REGELUNGSGEGENSTAND: MAßNAHMEN ZUR ANGLEICHUNG DER RECHTS- UND VERWALTUNGSVORSCHRIFTEN
Inhaltlich kann sich die Rechtsangleichung gemäß Art. 114 AEUV auf alle Rechts- und Verwaltungsvorschrift en der Mitgliedsstaaten beziehen. „Angleichung“ im Sinne des Art. 114 AEUV meint, dass durch die Rechtsakte die für den Binnenmarkt schädlichen Divergenzen zwischen den nationalen Normen ausgeglichen werden sollen.24

Diese Divergenzen können in unterschiedlichen Formen bestehen; auch wenn in einzelnen Mitgliedsstaaten nationales Recht fehlt, kann das Funktionieren des Binnenmarktes gestört sein. Bei neu entstehenden Problemen ist eine Rechtsangleichung zudem möglich, wenn bislang in keinem Mitgliedsstaat Vorschrift en erlassen wurden.

Allerdings nur unter den zusätzlichen Voraussetzungen, dass Rechtsvorschrift en zur angemessenen Problembewältigung erforderlich sind, nationale Vorgaben aber den Binnenmarkt beeinträchtigen würden.25

C. DIE VORRATSDATENSPEICHERUNGSRICHTLINIE 2006/24/EG
Kernregelung der Richtlinie 2006/24/EG26 ist die Verpflichtung privater Anbieter von Kommunikationsdienstleistungen, bestimmte Kommunikationsdaten für mindestens sechs Monate zu speichern und sie gegebenenfalls nationalen Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung zu stellen.

Unter dem Eindruck der Terroranschläge von New York, Madrid und London wird dieses Element als wesentlich zur Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten verstanden.27

I. KOMPETENZVERTEILUNG FÜR DEN ERLASS DER RICHTLINIE
Wegen des eigentlichen Ziels der Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten vertrat der klagende Staat Irland die Auffassung, dass die Richtlinie nicht auf die allgemeine Harmonisierung des Art. 95 EG a.F. (neu 114 AEUV), sondern – wenn überhaupt – nur auf die Vorschrift en über die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (die jetzt mit Art. 82 – 89 in den AEUV integriert wurden) zu stützen sei.

Hieraus ergäben sich natürlich entsprechende Konsequenzen für das Rechtsetzungsverfahren und insbesondere für die erforderlichen Mehrheiten. Bei abstrakter Betrachtung ging es also um die Frage, ob die supranational geprägte Europäische Gemeinschaft mit einfacher Mehrheit oder die intergouvernmentale Europäische Union mit einstimmigem Beschluss zum Erlass der Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie befugt war.

Nach dem bis zum Vertrag von Lissabon geltenden Dreisäulenmodell wurde die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit als intergouvernementale Säule bezeichnet, weil die Mitgliedsstaaten keine Kompetenzen auf eine internationale Organisation als eigenen Hoheitsträger übertragen hatten, sondern weiterhin Inhaber dieser Kompetenzen blieben. Sie hatten sich lediglich völkerrechtlich – durch den Unionsvertrag – zur Koordinierung der Ausübung dieser Kompetenzen verpflichtet.

Durch den Vertrag von Lissabon wurde jedoch eine rechtsfähige Europäische Union gegründet. Als Rechtsnachfolgerin der Europäischen Gemeinschaft hat die Union alle internen und externen Rechte und Pflichten der EG übernommen.28

Mit Art. 87 Abs. 2 lit. a) AEUV wurde durch den Vertrag von Lissabon eine Spezialnorm geschaffen, welche das Einholen, Speichern, Verarbeiten, Analysieren und Austauschen sachdienlicher Informationen betrifft Umfasst ist damit der Gesamtbereich des Informationsaustausches einschließlich der dafür notwendigen Mittel.29

Im Lichte dieser primärrechtlichen Änderung gibt es kaum einen Grund, den Anwendungsbereich des Art. 114 AEUV in der durch den EuGH in seiner Entscheidung formulierten Weise aufrecht zu erhalten.30 Mit Art. 87 Abs. 2 lit. a) AEUV wurde eine Norm geschaffen, die lex specialis zu Art. 114 AEUV ist.

Für eine genauere Abgrenzung sollen dennoch zunächst die Beweggründe für den Erlass der Richtlinie unter die Voraussetzungen des Art. 114 AEUV summiert werden, wie es auch der Gerichtshof in seiner Entscheidung getan hat.

II. VORLIEGEN VON HANDELSHEMMNISSEN ODER SPÜRBAREN WETTBEWERBSVERZERRUNGEN
In einem ersten Schritt müssen insoweit Handelshemmnisse oder spürbare Wettbewerbsverzerrungen vorliegen. Der EuGH begründet das Vorliegen von spürbaren Wettbewerbsverzerrungen damit, dass zwischen den nationalen Regelungen der Vorratsdatenspeicherung rechtliche und tatsächliche Unterschiede bestehen.31

Die dem Gerichtshof vorgelegten Beweise ergäben, dass die Verpflichtung zur Datenvorratsspeicherung erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen für die Dienstanbieter hätte, da sie hohe Investitionen und Betriebskosten nach sich ziehen könnte.32 Im Übrigen wiesen die bis 2005 nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 erlassenen Maßnahmen erhebliche Unterschiede auf, insbesondere hinsichtlich der Natur der gespeicherten Daten und ihrer Speicherungsfristen.33

Angesichts dessen zeige sich, dass die Unterschiede zwischen den verschiedenen zur Datenvorratsspeicherung erlassenen nationalen Regelungen geeignet wären, sich unmittelbar auf das Funktionieren des Binnenmarktes auszuwirken, und dass es absehbar war, dass sich diese Auswirkungen noch verstärken würden.34 Diese Argumentation ist durchaus schlüssig.

In der Literatur wird jedoch angeführt, dass es bereits zu bezweifeln sei, ob die Richtlinie wirklich dazu geeignet ist, die festgestellten Wettbewerbsverzerrungen zu beseitigen. Diese sehe die Kammer darin, dass die Speicherpflichten zwischen drei Monaten und vier Jahren schwankten.

Dass die Erhöhung der Mindestspeicherpflicht um gerade mal drei Monate die Wettbewerbsverzerrungen signifikant mildern könne, wird als nicht plausibel erachtet, wenn eine mehrjährige Speicherdauer weiterhin vorgeschrieben bliebe.35

III. REGELUNGSZIELE DER RICHTLINIE 2006/24/EG

In einem zweiten Schritt ist die Frage zu stellen, ob die Richtlinie auch tatsächlich die Beseitigung der Wettbewerbsverzerrungen bezweckt.

1. MINIMIERUNG VON WETTBEWERBSVERZERRUNGEN
Aus den Erwägungen der Richtlinie sowie der Entscheidung des EuGH36 zur Klage von Irland geht hervor, dass die Richtlinie zumindest auch die Minimierung von Wettbewerbsverzerrungen bezweckt.

Nicht von Art. 114 AEUV gedeckt sind Maßnahmen, die einen negativen Binnenmarkteffekt haben, indem sie bestimmte Wirtschaftstätigkeiten unterbinden oder behindern.37 So könnte es auch hier der Fall sein. Die Richtlinie dient ja gerade nicht dazu, die unterschiedlichen nationalen Regelungen abzuschaffen, die zu einer Wettbewerbsverzerrung führen.

Stattdessen führt sie dazu, den Wettbewerbsnachteil, der in einer Pflicht zur Vorratsdatenspeicherung besteht, europaweit zu generalisieren.38 Immerhin jedoch schafft sie ein einheitliches Mindestmaß an finanzieller Belastung für die betroffenen Unternehmen und ist somit auch weniger wettbewerbsverzerrend. Von erheblichen Behinderungen kann also nicht gesprochen werden.

Es wird vorgeschlagen, die betreff enden Mitgliedsstaaten könnten die hohen Investitionskosten, die durch die Vorratsdatenspeicherung entstehen, auch durch Entschädigungsregelungen dämpfen.39 Die finanziellen Auswirkungen stellen letztlich aber nur die Folge, nicht jedoch die eigentliche Zielsetzung dar.

2. VORBEUGUNG VON STRAFTATEN
Parallel wird auch noch ein anderes Ziel verfolgt. Neben der Minimierung der Wettbewerbsverzerrungen soll natürlich auch die Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten erleichtert werden.

Der EuGH argumentiert, die Richtlinie 2006/24/EG bringe selbst keine Strafverfolgung durch die Mitgliedsstaaten mit sich und regle nur Tätigkeiten, die unabhängig von der Durchführung jeder eventuellen Maßnahme Polizeilicher und Justizieller Zusammenarbeit in Strafsachen seien.

Daraus folge, dass der materielle Gehalt der Richtlinie im Wesentlichen die Tätigkeit der Dienstanbieter im betroffenen Sektor des Binnenmarktes erfasse und im überwiegenden Maße das Funktionieren des Binnenmarktes betreffe.40

3. VERHÄLTNIS DER BEIDEN REGELUNGSZIELE
Fraglich ist, welche Bedeutung den beiden nebeneinander stehenden Zielen der Maßnahme zukommt. Reicht es aus, wenn die Binnenmarktharmonisierung bloßes Nebenziel ist? Auch in den Beweggründen der Richtlinie wird auf das Ziel der Vorbeugung von Straftaten hingewiesen.41

Dabei bleibt unklar, wie wichtig dieses Ziel ist. Auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, dass es sich hierbei um das primäre Ziel handelt. Die Auswirkungen auf den Binnenmarkt sind bedingt durch die unterschiedlichen Regelungen zur Datenspeicherung auf nationaler Ebene und deren Wirkung auf die Kosten bei den Telekommunikationsdienstleistungen, also nur sekundär.42

In der Literatur wird angeführt, dass, solange die Anwendungsvoraussetzungen für Art. 114 AEUV gegeben seien, es unschädlich wäre, wenn die Sicherung des Binnenmarktes nicht den einzigen Zweck der Maßnahme darstelle.43

Dass das Regelungsziel der Richtlinie im Schwerpunkt tatsächlich in der Minimierung der Wettbewerbsverzerrungen liegen soll, die dadurch entstünden, dass Telekommunikationsunternehmen in einigen Mitgliedsstaaten zur Vorratsdatenspeicherung verpflichtet seien, in anderen dagegen nicht, ist nicht zu erkennen.44 Schlicht unmöglich ist es, die Vorratsdatenspeicherung unabhängig von der Datenverwendung zu betrachten.

Es ist daher äußerst fragwürdig, ob sich die Richtlinie auch ohne diesen Zweckbezug rechtfertigen ließe. Richtigerweise ist die Zulässigkeit wohl von dieser Rechtfertigung abhängig, womit die Vorratsdatenspeicherungspflicht eine Harmonisierung durch eine Maßnahme Polizeilicher und Justizieller Zusammenarbeit voraussetzt.

Das Urteil läuft vielmehr darauf hinaus, dass Maßnahmen der Gemeinschaft zur Stärkung der inneren Sicherheit, die einige Mitgliedsstaaten aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht mittragen können oder wollen, über den Umweg des Art. 114 AEUV erzwungen werden können, soweit sie nur Auswirkungen auf den Binnenmarkt haben und die jeweiligen Richtlinien den staatlichen Datenzugriff nicht ausdrücklich regeln.45

Die Entscheidung des EuGH ist mithin das falsche Zeichen, um den von Art. 5 EUV normierten Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung hervorzuheben und die rechtliche Bedeutung des Subsidiaritätsgrundsatzes zu unterstreichen.46 Deutlich sind hier die ungenauen Anwendungsvoraussetzungen des Art. 114 AEUV und deren Folgen zu erkennen.

Die bisher entwickelten Voraussetzungen reichen für eine klare und genaue Subsumtion nicht aus. Vielleicht waren es genau diese Ungenauigkeiten, die die Kommission veranlasst haben, dem Rat den Vorschlag für eine Richtlinie auf Grundlage des Art. 95 EG a.F. (neu Art. 114 AEUV) zur Vorratsdatenspeicherung zu unterbreiten, um so die erforderliche einstimmige Mehrheit für einen Rahmenbeschluss gem. Art. 34 Abs. 2 lit. b) EUV a.F. zu umgehen.47

Insbesondere im Hinblick darauf, dass Irland bereits deutlich gemacht hatte, seine Stimme hierfür nicht abzugeben. Stimmen in der Literatur sprechen hier sogar von Kompetenzabsprache.48

Zumindest diese Strategie wird nun nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon nicht mehr angewendet werden müssen, da die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit, wenn auch zeitlich gestaffelt, in den AEUV überführt wurde.49 Dies gilt insbesondere auch für die Abstimmungsmodi, sodass künftig eine Mehrheitsentscheidung auf diesem Gebiet möglich sein wird.50

D. SCHLUSSBETRACHTUNG
Mit der Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherungs-Richtlinie sprengt der EuGH den Rechtsrahmen, den Art. 114 AEUV für Rechtsangleichung setzt. Im Rahmen der Entscheidung zur Vorrats datenspeicherungs-Richtlinie wäre der EuGH zumindest nach dem Vertrag von Lissabon verpflichtet, die Richtlinie auf ihre Grundrechtskonformität zu überprüfen.

Das ergibt sich nicht zuletzt auch aus Art. 4 Abs. 3 EUV. Hierin zeigt sich, dass der Vertrag von Lissabon durchaus Fortschritte für die europäische Rechtsanwendung gebracht hat. Der EuGH kann die Überprüfung der Grundrechte nun nicht mehr allein den nationalen Gerichten überlassen. Aber gerade die Vorratsdatenentscheidung zeigt auch die Notwendigkeit dieser Änderung.

Grundrechtliche Eingriff e auf europarechtlicher Ebene, wie die der Vorratsdatenspeicherung, müssen direkt auf ihre Verhältnismäßigkeit überprüft werden. Der „Spielraum“ zwischen EuGH und BVerfG sollte damit begrenzt sein. Mithin bestätigt sich durch die Entscheidung einmal mehr die Befürchtung, dass sich alle Maßnahmen, die nur in irgendeiner Form einen Binnenmarktbezug aufweisen, unter Art. 114 AEUV summieren lassen.

Skeptikern der wachsenden europäischen Integration dürft e dies durchaus Sorge bereiten. Mit Art. 114 AEUV hat der europäische Gesetzgeber einmal mehr ein Mittel in der Hand, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zu unterlaufen und immer mehr Kompetenzen zu begründen. Es bleibt abzuwarten, welche Maßnahmen als nächstes auf Art. 114 AEUV gestützt werden.

Spannend ist die Frage, ob der EuGH in Zukunft die exzessive Auslegung des Art. 114 AEUV weiterhin dulden oder dieser Entwicklung nicht doch bald Grenzen setzen wird. Zumindest die Einführung des Art. 87 AEUV ist positiv zu bewerten. Heute müsste die Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie nicht mehr auf Art. 114 AEUV gestützt werden.

Durch diese primärrechtliche Änderung wurde bewirkt, dass sich der Anwendungsspielraum des Art. 114 AEUV nunmehr ein Stück weit konkretisieren lässt.
von cand. iur. Katharina Kutter (Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn)

von Katharina Kutter, veröffentlicht in Iurratio Ausgabe 3/2011

Fußnoten:

1 Silny, Die binnenmarktbezogene Rechtsangleichungskompetenz des Art. 95 EG, Reichweite und Grenzen der Harmonisierungskompetenz sowie ihre Stellung in der gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzverfassung, S. 2; Möstl, in: EuR 2002, 318, (319); Caspar, in: EuZW 2000, 237, (238).
2 EuGH 10.02.2009, Rs. C-301/06, Vorratsdatenspeicherung, Slg. 2009, I-593.
3 EuGH 12.12.2006, Rs. 380/03, Tabakwerbung-II, Slg. 2006, I-11573.
4 EuGH 10.02.2009, Rs. C-301/06, Vorratsdatenspeicherung, Slg. 2009, I-593.
5 Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht (nach dem Vertrag von Lissabon), 7. Auflage, Rn. 1198; Nowak, in: EuR 2009, 129, (169)
6 Herrnfeld, in: Schwarze, Art. 95 EG (a.F.), Rn. 4; Silny, S. 73; Möstl, in: EuR 2002, 318, (324).
7 EuGH 05.10.2000, Rs. C-376/98, Tabakwerbung-I, Slg. 2000, I-8419. 8 EuGH 10.12.2002, Rs. C-491/01, British American Tobacco, Slg. 2002, I-11453. 9 Von Bogdandy/Bast, in: EuGRZ 2001, 441, (448); Götz, in: JZ 2001, 34, (35). 10 EuGH 10.12.2002, Rs. C-491/01, British American Tobacco, Slg. 2002, I-11453, Rn. 75; Tietje, in: Grabitz/Hilf, Art. 95 (a.F.), Rn. 26 ff . 11 Tietje, in: Grabitz/Hilf, Art. 95 EG (a.F.), Rn. 28.
12 Calliess, in: Jura 2001, 311, (315); GA Geelhoed, Schlussantrag zu EuGH 10.12.2002, Rs. C-491/01, British American Tobacco, Slg. 2002, I-11453.Rn. 146 ff . 13 EuGH 05.10.2000, Rs. C-376/98, Tabakwerbung-I, Slg. 2000, I-8419, Rn. 96 ff . und 106 ff .; Koenig/ Kühling, in: EWS 2002, 12, (17). 14 EuGH 20.02.1979, Rs. C-120/78, Cassis de Dijon, Slg. 1979, I-649.
15 Kahl, in: Calliess/Ruff ert, Art. 95 EG (a.F.), Rn. 13.
16 EuGH 24.11.1993, Rs. C-267/91 und C-268/91, Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097, Rn. 15.
17 Kahl, in: Calliess/Ruff ert, Art. 95 (a.F.), Rn. 13; Tietje, in: Grabitz/Hilf, Art. 95 EG (a.F.), Rn. 30.
18 Streinz, Europarecht, 8. Auflage, § 12, Rn. 925.
19 EuGH 11.06.1991, Rs. C-300/89, Titandioxyd, Slg. 1991, I-2867, Rn. 23; EuGH 05.10.2000, Rs. C- 376/95,Tabakwerbung-I, Slg. 2000, I-8419; Kahl, in: Calliess/Ruff ert, Art. 95 (a.F.), Rn. 15; Tietje, in: Grabitz/Hilf, Art. 95, Rn. 35 ff .; Möstl, in: EuR 2002, (342).
20 EuGH 05.10.2000, Rs.. C-376/95, Tabakwerbung-I, Slg. 2000, I-8419, Rn. 107; Fischer, in: Lenz/ Borchard, Art. 114 AEUV, Rn. 20.
21 Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 7. Auflage, Rn. 157.
22 Herrnfeld, in: Schwarze, Art. 95 EG (a.F)., Rn. 6; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 7. Auflage, Rn. 1201.
23 Herrnfeld, in: Schwarze, Art. 95 EG (a.F.), Rn. 7.
24 Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 4. Auflage, § 33, Rn. 12.
25 EuGH 05.10.2000, Rs. C-376/98, Tabakwerbung I, Slg. I-8419; Herrnfeld, in: Schwarze, Art. 95 EG (a.F.), Rn. 6, und 21.
26 Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.03.2006 über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher Kommunikationsdienste erzeugt oder verarbeitet werden, und zur Änderung der Richtlinie 2002/58/EG, ABl. EU Nr. L 105 v. 13.04.2006, 54.
27 Rossi, in: ZJS 2009, (298).
28 Art. 1 Abs. 3 S. 3 EUV; Haratsch/Koenig/Pechstein, 7. Auflage, Rn. 50 ff .
29 Kotzur, in: Geiger/Khan/Kotzur, Art. 87 AEUV, Rn. 5.
30 Ohler, in: JZ 2010, 627.
31 EuGH 10.02.2009, Rs. C-301/06, Vorratsdatenspeicherung, Slg. 2009, I-593, Rn. 66.
32 EuGH 10.02.2009, Rs. C-301/06, Vorratsdatenspeicherung, Slg. 2009, I-593, Rn. 68.
33 EuGH 10.02.2009, Rs. C-301/06, Vorratsdatenspeicherung, Slg. 2009, I-593, Rn. 69.
34 EuGH 10.02.2009, Rs. C-301/06, Vorratsdatenspeicherung, Slg. 2009, I-593, Rn. 71.
35 Klescewski, in: HRRS 2009, 250; Terhechte, in: EuZW 2009, 199, (203); Kindt, in: MMR 2009, 661, (664).
36 EuGH 10.02.2009, Rs. C-301/06, Vorratsdatenspeicherung, Slg. 2009, I-593, Rn. 56 ff .
37 EuGH 05.10.2000, Rs. C-376/98, Tabakwerbung-I, Slg. I-8419; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 4. Auflage, § 33, Rn. 10.
38 So auch Klescewski, in: HRRS 2009, 250.
39 Petri, in: EuZW 2009, 212.
40 EuGH 10.02.2009, Rs. C-301/06, Vorratsdatenspeicherung, Slg. 2009, I-593, Rn. 82 und 84.
41 EuGH 10.02.2009, Rs. C-301/06, Vorratsdatenspeicherung, Slg. 2009, I-593, Rn. 7.
42 Terhechte, in: EuZW 2009, 199, (202).
43 Herrnfeld, in: Schwarze, Art. 95 EG (a.F.), Rn. 7.
44 So auch Rossi, in: ZJS 2009, 174.
45 Petri, in: EuZW 2009, 212.
46 Rossi, in: ZJS 2009, 174.
47 Terhechte, in: EuZW 2009, 199, (200).
48 Simitis, in: NJW 2009, 1782, (1783).
49 Schwarze, in: EuR-Beiheft 1/2009, 9, (24 f.); Terhechte, in: EuR 2008, 142, (172).
50 Müller-Graff , in: EuR-Beiheft 1/2009, 105, (120 ff .).

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